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Njoman / Memel
DIE STADT AM FLUSS
Zwei Namen: Njoman und Memel – … und eine Sage zur Entstehung des Flusses
Njoman lautet der belarussische Name des Flusses, der durch Hrodna fließt. Die Deutschen kennen das Gewässer auch aus ihrer Geschichte – hier hieß der Fluss Memel. Aus sprachlicher Sicht interessant ist, dass der belarussische Name Njoman männlichen Geschlechts ist, während die Memel im Deutschen weiblich ist. Daher ist der Held der unten erzählten Sage auch ein Mann.
Unsere Stadt Hrodna liegt am Ufer eines mächtigen Flusses, den die Belarussen Njoman nennen. Wenn ich als Kind den Fluss betrachtete, konnte ich nicht verstehen, wie er so breit und endlos sein kann. Über den Njoman gibt es eine Sage, und die erzählte mir meine Oma.
Es ist schon lange her, als neben einer alten Weide eine kleine Quelle erschien. Sie begann, immer stärker zu sprudeln. Sehr schnell verwandelte sich die kleine Quelle in einen reißenden Fluss, der später in zwei Teile zerfiel. So entstanden zwei junge Flüsse. Ein Fluss war ein tapferer und kräftiger Junge, der Njoman hieß, der zweite Fluss war ein schönes bescheidenes Mädchen, das den Namen Loscha trug. Njoman verliebte sich in Loscha und wand sich sehr geschickt durch Felder und Wälder, um seine Schönheit und Kraft zu zeigen, und wurde immer stärker. Loscha jedoch floss still und unauffällig und schenkte dem kecken Jungen keine Aufmerksamkeit. So beschloss Njoman, dem der Raum zwischen den Feldern und Wäldern zu eng geworden war, bis zum Meer zu fließen. Er schlug Loscha vor mitzufließen. Zuerst zeigte sie sich einverstanden und machte dem armen Jungen Hoffnungen, aber in Wirklichkeit wollte Loscha Njoman loswerden. Die beiden flossen den ganzen Tag und Njoman, ganz von seiner Liebe begeistert, machte verschiedene Tricks für Loscha. Das Mädel dagegen floss wie immer still und bescheiden. Am Abend war Njoman sehr müde. Ganz tief in der Nacht, nachdem Njoman eingeschlafen war, verließ Loscha den Jungen und lief auf einem anderen Weg zum Meer, um es als Erste zu erreichen. Als Njoman am nächsten Morgen erwachte, bemerkte er, dass seine Geliebte „weggelaufen“ war. Er war aufgeregt und verzweifelt und beschloss, sie sofort einzuholen. So fließt Loscha auch heute ganz still zur Ostsee versteckt hinter Büschen und in Schilfgürteln, während Njoman kräftig und breit, nach seiner Liebe suchend, bis zum Meer strömt. Bis heute versucht er, die schöne und listige Frau einzuholen.
Das ist eine kleine schöne Geschichte über den Fluss, der durch unsere Stadt fließt. Der Njoman ist tatsächlich ein bedeutender Fluss für die Region. Er hat seinen Ursprung südwestlich von Minsk, und fließt durch das Memeltiefland bis zur Ostsee. Der Verlauf des Flusses liegt im Wesentlichen auf dem Territorium zweier Länder, Belarus und Litauen, bildet kurz vor der Mündung in die Ostsee aber auch die natürliche Grenze zwischen Litauen und Russland (Kaliningrader Gebiet). Die Gesamtlänge des Flusses beträgt 937 km, der belarussische Teil umfasst etwa 431 km. Als Grenzfluss spielte der Njoman bzw. die Memel immer eine sehr wichtige Rolle.
Man kann die Bedeutung des Flusses für Hrodna kaum überschätzen. Der Fluss gab der Stadt seine Kraft, und seine Existenz war ein Grund für ihre rasche Entwicklung. Der Njoman war für die Bewohner des mittelalterlichen Hrodna alles: Ernährer, Wächter, Helfer und Gott. Der Fluss war damals ein Garant von Sicherheit und Stabilität, er stellte die einzige Möglichkeit dar zu reisen und zu handeln.
Mit der Entwicklung der Wirtschaft wurde der Njoman zu einem wichtigen schiffbaren Wasserweg, der bedeutende Handelswege verband. Der Bau von zwei Kanälen gab den Hrodnaer Kaufleuten die Möglichkeit, ohne Hindernisse mit vielen europäischen Ländern zu handeln. Der Ahinski-Kanal verbindet den Njoman mit dem Dnepr im belarussischen Osten, und öffnete den Weg zu den reichen Regionen Russlands und der Ukraine. Der Augustowski-Kanal, der nördlich von Hrodna seinen Anfang nimmt, verknüpft sie mit dem Flusssystem der Weichsel und öffnete den Weg nach Europa.
Heute haben diese Wasserwege ihre Bedeutung teilweise eingebüßt, und doch ist der Njoman ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für Hrodna geblieben. Der Fluss versorgt die Hrodnaer Betriebe mit dem notwendigen Wasser. Die wirtschaftlichen Aktivitäten bringen für den Fluss aber auch ökologische Probleme mit sich. Das Trinkwasser für die Einwohner der Stadt wird zum Teil aus dem Fluss entnommen. Seine Reinheit zu garantieren, ist unter diesen Umständen schwierig.
Der Njoman verleiht der Stadt Hrodna eine romantische Atmosphäre, sie beeinflusst auch den Rhythmus des Lebens in ihr. Der Fluss trennt das heutige Hrodna in zwei Teile, die, wie es scheint, ganz verschiedenen Zeitaltern angehören. Am nördlichen/östlichen Ufer liegt die alte Stadt mit ihren Kirchen und Klöstern, mit kleinen stillen Gassen und gemütlichen Gaststätten. An der südlichen/westlichen Seite findet man eine moderne, hektische Großstadt, mit Hochhäusern und Betrieben. Es scheint, als ob der Fluss das Hrodna der Vergangenheit abgetrennt hätte, um es vor der Gegenwart zu schützen.
Der Kai des Njoman neben den Schlössern ist ein beliebtes Ausflugsziel. Das ist kein Wunder, weil man gerade von dort die schönste Aussicht über Hrodna genießen kann. Der Njoman teilt und verbindet gleichzeitig das Alte und das Neue in der Stadt und gibt ihr Energie und Kraft.
Anastasiya Chechko
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